Einige Leute denken, dass der 1. Mai ein reformistischer Feiertag ist. Tatsächlich wurde dieses Datum von der Linken und sogar von vielen Staaten wiedererlangt. Der 1. Mai ist offiziell der Tag der Arbeit, und als solcher ist er in vielen Ländern ein Tag in dem die harte Arbeit (im positiven Sinne) gefeiert wird, und Gewerkschaftsorganisationen (ob anarchistisch oder nicht) haben ihn zu ihrem Haupttermin des Jahres gemacht, an dem jeder mit seiner Flagge und seinem Banner auf die Straße geht, um im linken Karneval durch die Straßen zu ziehen.
Es ist eigentlich ziemlich lustig, dass Reformisten ein solches Datum feiern, denn der erste Mai ist für Anarchisten nicht der Tag der Arbeit, sondern das Gedenken an das, was im Mai 1886 in Chicago (USA) geschah, als Arbeiter, Anarchisten, häufig Migranten (aus Deutschland, Irland, Italien, etc.) einen massiven Streik begannen, um weniger Stunden zu arbeiten (die berühmten Streiks, um den achtstündigen Arbeitstag). In den Zeitungen dieser Anarchisten (einige davon in deutscher Sprache, wie z.B. Arbeiter-Zeitung) gab es Aufrufe, die Waffen gegen die Bosse und die Polizei zu erheben, Aufrufe zum Bombenbau. Und das ist in der Tat passiert, die Worte waren damals nicht nur Tinte, und während einer Kundgebung am Haymarket, die von der Polizei sehr gewaltvoll unterdrückt wurde (damals bedeutete dies, dass es Tote gab), wurde eine Bombe auf Polizisten geworfen, ein Polizist wurde getötet, und sieben Weitere wurden in dem folgenden Kampf getötet.
Infolgedessen wurden 8 Anarchisten vor Gericht gestellt und 5 zum Tode verurteilt. Einer von ihnen, ein Experte für Dynamit, beging Selbstmord in seiner Zelle, und vier wurden gehängt. Entgegen dem Mythos der linken Propaganda sind die Anarchisten vom Haymarket jedoch weder unschuldige Opfer, noch Märtyrer (Märtyrertum ist ein religiöses Konzept). Sie alle waren aktiv an der anarchistischen Propaganda beteiligt, sie schrieben in jenen Zeitungen, die den Griff nach Waffen und Bomben forderten und selbst Bomben bauten, und sie wurden verhaftet, weil ihre Tätigkeit als anarchistische Propagandisten sie für die Augen des Staates sichtbar machte, und sie versteckten sich nicht vor ihm. Damals wurde der Anarchismus als echte Bedrohung für die bestehende Herrschaft angesehen, wie dieses Zitat des Staatsanwalt zum Haymarket-Prozess zeigt: „Es ist nur ein Schritt von der Republik zur Anarchie. Das Gesetzt klagt die Anarchie an! Diese Männer wurden wurden anstelle von Tausenden vor Gericht gestellt, nicht etwa weil sie schuldiger sind, sondern weil sie deren Anführer waren. Gentlemen! Statuiert ein Exempel an ihnen, hängt sie! Nur so retten wir unsere Institutionen, unsere Gesellschaftsordnung! Es ist ihre Entscheidung, ob wir diesen Schritt zur Anarchie machen, oder nicht.“
Dieser kurze Rückblick auf die Ereignisse von Haymarket soll nicht dazu dienen, Nostalgie zu provozieren oder uns zu sagen, dass die heutigen Anarchisten so handeln sollten wie 1886. Wir leben im Jahr 2019, in Deutschland, in einer äußerst befriedeten Gesellschaft, in der anarchistische Ideen oft in einer bitteren Suppe der linken Ideologie verwässert werden. Denn die heutige Erklärung gegen alle Götter, Herrscher oder Nationen ist nicht mehr so einvernehmlich wie im 19. Jahrhundert, als Nationalismus, Religion oder der Chef von Anarchisten eindeutig als Feinde der Freiheit angesehen wurden, und nicht als Details, bei denen wir tolerant sein können, je nachdem, wer diese reaktionären Konzepte trägt.
Es ist auch nicht so, dass wir unbedingt Jahrestage verteidigen müssen, die uns gehören würden. Schließlich ist der 1. Mai nur ein Datum im Kalender, und wir können andere finden, wenn wir uns nicht mit der Linken vermischen wollen, und wir können uns auch für unsere eignen Momente entscheiden, ohne einem festen, vorhersehbaren Kalender zu folgen.
Nichtdestotrotz beschlossen einige Berliner Anarchist*innen in diesem Jahr, die Idee eines „subversiven“ 1. Mai auf den ganzen Monat Mai auszudehnen. Sowohl durch Ideen als auch durch Taten soll die anarchistische Praxis, die bereits 1886 existierte, fortgesetzt werden, und daran erinnert werden, dass die Repression auch heute noch Anarchisten hart trifft, überall auf der Welt, und dass wir diese Gefährt*innen nicht im Stich lassen dürfen. Ob in Italien, Frankreich, Argentinien, Spanien, Griechenland, Mexiko, Kanada, Chile, der Schweiz, der Tschechischen Republik, Deutschland, Russland und anderswo, Anarchist*innen handeln weiter, verbreiten ihre Liebe zur Freiheit und werden aus diesem Grund unterdrückt. Und während es wichtig ist, an die Weggesperrten hinter Gittern zu denken oder an diejenigen, die zur Flucht gezwungen sind, um dem Gefängnis zu entgehen, ist es auch wichtig, selbst zu handeln, in Zeiten, die wir wählen, und nicht nur als Reaktion auf das, was der Staat gegen einen von uns tun könnte, denn wir sind keine Automaten, die aus einem konditionierten Reflex handeln.
Der Anarchismus versteht sich außerhalb des politischen Schachbretts, auf der linke und rechte Aktivist*innen spielen, oft mit dem Ziel, auf aktuelle Ereignisse zu reagieren. Die Anarchie ist ein freies Leben, und Anarchist*innen tun, was möglich ist, um sich darauf zuzubewegen. Und das wird nur geschehen, indem man sich weigert, kleine Soldaten zu sein, die im Namen von etwas Überlegenem handeln, und indem man sich von der Linken emanzipiert, was uns daran hindert, uns voll zu entwickeln, was uns Sauerstoff kostet. Lasst uns die Leidenschaft, den Hass, die Wut, all die gefährlichen Emotionen wiederentdecken, wie die Anarchist*innen seit dem 19. Jahrhundert überall in der Welt.
So wird die Idee für einen Monat des anarchistischen Mai in Berlin gestartet, in der Hoffnung, dass die Anarchist*innen in der Lage sein werden, die Ideen nach und nach zurückzugewinnen, die unsere Vorgänger ohne Zugeständnisse trugen und welche die Gefährt*innen heute noch tragen, manchmal trotz jahrzehntelanger Gefangenschaft in den Knästen der Demokratie.
„Die Zeit wird kommen, in der unser Schweigen stärker sein wird als die Stimmen, die ihr heute erwürgt“ (August Spies, Angeklagter im Haymarket-Prozess, während er das Seil um den Hals hatte)
Für einen Monat Mai der anarchistischen Praxis!
Ein*e Berliner Anarchist*in